Zu Fuß durch das wilde Herz des Westbalkans
20 Tage in der Wildnis des Westbalkans: Beim Trekking auf dem neu eröffneten High Scardus Trail überquerte unser Autor Simon einsame Gebirgszüge, trank Rakija mit einheimischen Hirten und schuf Erinnerungen, die bleiben. Erfahrt hier alles über seine Erlebnisse auf einem unvergleichlichen Fernwanderweg.
Ein kurzer letzter Anstieg über Karstplatten und Grashalden, dann habe ich es geschafft: Ich stehe auf dem breiten Hauptkamm des Galičica-Gebirges im Westen Nordmazedoniens. Auf der einen Seite glitzert der Prespasee in der Sonne, auf der anderen erstreckt sich der mächtige Ohridsee unter meinen Füßen. Ich blicke zurück zu den hoch aufragenden Gebirgsmassiven im Norden, ihre Gipfel noch leicht mit Schnee bedeckt. Fast 20 Tage lang bin ich auf dem High Scardus Trail unterwegs, auf einsamen Hirtenpfaden, über zerklüftete Gipfel, zwischen traditionellen Dörfern und wilden Bergkämmen.
Der Trail: Zwischen Wildnis und reicher Kultur
Der High Scardus Trail hat mich wirklich in das wilde Herz des Westbalkans geführt: In 20 Etappen und über rund 300 Kilometer führt dieser neu eröffnete Fernwanderweg vom Gebirgszug Šar-Planina über das Korab-Massiv – den höchsten Gipfel des Westbalkans – bis hin zum Galičica-Nationalpark. Beim Wandern entlang der Grenzen zwischen Kosovo, Albanien und Nordmazedonien habe ich nicht nur einsame, wilde Landschaften erlebt, sondern auch die kulturelle Vielfalt einer Region im Südosten Europas, die zwischen Tradition, konfliktreicher Vergangenheit und dem Aufbruch in eine moderne Zukunft steht.
All die Erlebnisse der letzten Wochen gehen mir durch den Kopf, während neben mir Rezarta Bare die letzten Schritte hinauf zum Grat meistert. Sie ist Tourismusberaterin bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Albanien und hat den High Scardus Trail gemeinsam mit Kollegen aus Nordmazedonien und Kosovo entwickelt. Die letzten beiden Etappen des Trails wandert sie gemeinsam mit mir.
Der Westbalkan lässt dich nicht los
Auf den beiden letzten Etappen entfaltet der High Scardus Trail nochmals seine ganze Pracht! Die Traumwanderung am Galichica Gipfelkamm hoch über ...
„Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass es in Europa noch eine Region gibt, die so spektakuläre Berge und Natur zu bieten hat und gleichzeitig kaum bereist wird“, sagt Rezarta und zieht ihr Smartphone aus der Tasche, um die Szenerie einzufangen. „Du kannst hier tagelang wandern und triffst, wenn überhaupt, nur ein paar Hirten auf dem Weg.“
Es ist ein schwieriger Balanceakt: Die Einsamkeit und die wilde Landschaft sind genau das, was mich am Trekking auf dem Westbalkan gereizt hat, aber es gibt nur wenige Perspektiven für die lokale Bevölkerung in dieser Region. Keine Jobs außer der traditionellen Viehzucht und eine schlechte Infrastruktur führen dazu, dass immer mehr junge Menschen den ländlichen Regionen in den Bergen auf allen Seiten der Landesgrenzen den Rücken kehren, um anderswo ihr Glück zu suchen – auch im europäischen Ausland. „Der High Scardus Trail soll der Region einen Entwicklungsschub in Sachen Tourismus geben“, erklärt Rezarta und zeigt mir ihre Vision auf:
„Mit dem Trail kommen die Wanderer aus aller Welt, sie schlafen in Berghütten und familiär geführten Unterkünften, kaufen lokale Produkte, manche nehmen vielleicht einen Bergführer in Anspruch. Und wer die Naturlandschaften und die warmherzige Gastfreundschaft auf dem Westbalkan mal erlebt hat, der kommt garantiert wieder. Das lässt einen nicht los!“
Erlebnisse, die bleiben
Ich muss unweigerlich an die beiden Hirten denken, die mich an einem Regentag im Šar-Gebirge in ihren einfachen Unterstand einluden, damit ich mich bei türkischem Kaffee und selbstgebranntem Rakija – dem lokalen Traubenschnaps, der Freunde schafft – am Feuer aufwärmen konnte. Oder an den Bergbauern im Korab-Gebirge, der für mich in seiner einfachen Unterkunft auf fast 2.000 Metern scheinbar aus dem Nichts einen vegetarischen Eintopf mit Gemüse und Schafskäse zauberte und mir als Proviant für den nächsten Tag einen halben Laib frisch gebackenes Brot und seine letzten Äpfel aus dem Tal aufdrängte.
Rezarta hat Recht, diese Erlebnisse werden mich so schnell nicht mehr loslassen.
Eine der größten Herausforderungen, erzählt Rezarta, war es, die nötige Infrastruktur zu schaffen, damit Weitwanderer den Trail sicher und mit einem Grundmaß an Komfort begehen können. „In einigen Dörfern mussten erst Übernachtungsmöglichkeiten entstehen, und rund 300 Kilometer Wanderwege mussten markiert werden. Wenn hier nicht so viele Tourguides und lokale Reiseveranstalter von Anfang an mit angepackt hätten, wäre das niemals Wirklichkeit geworden.“
Vielleicht ist das eines der Dinge, die mich beim Wandern auf dem High Scardus Trail am meisten beeindruckt haben: Wie gut der Weg den Spagat zwischen neuer Infrastruktur und der Erhaltung des authentischen Charakters seiner Regionen schafft.
Um all das zu koordinieren, hat sich das Projekt mit der österreichischen Agentur Trail Angels zusammengetan, die schon Weitwanderwege wie den Alpe-Adria-Trail oder den Luchs Trail entwickelten. Das Ergebnis sind insgesamt 20 abwechslungsreiche Etappen, die von den Bergtälern im Grenzgebiet zwischen Nordmazedonien und dem Kosovo über den Berg Korab, den mit 2.764 Metern höchsten Gipfel des Westbalkans, bis fast an die griechische Grenze im Süden führen.
Fünf Bergmassive und sechs Nationalparks
In Ohrid, dem pittoresken Ort mit historischer Altstadt am Westufer des Sees, treffen wir Anica Palazzo, eine Kollegin von Rezarta bei der GIZ in Nordmazedonien. Anica war eine der Vordenkerinnen des High Scardus Trail und hat das Projekt von Anfang an mit koordiniert.
„Wir wollten Perspektiven für die Menschen in der Region schaffen. Wir wussten, dass ein Wanderweg dazu beitragen kann, weil wir bereits die Entwicklung des Wanderwegs „Peaks of the Balkans“ unterstützt haben“, erklärt sie. Dieser 192 km lange Rundwanderweg verwandelte das abgelegene und vergessene Prokletije-Gebirge in ein bekanntes und beliebtes Wanderziel, das jedes Jahr Zehntausende von Outdoor-Touristen in die Region lockt. „Wir hoffen, dass der High Scardus Trail einen ähnlichen, wenn nicht sogar größeren Erfolg haben wird“, sagt Anica. „Der Trail ist länger, verbindet fünf Gebirgsmassive, verläuft durch sechs Nationalparks und führt die Wanderer durch schöne Städte und eine faszinierende Kulturlandschaft.“
Wir stehen auf der Terrasse ihres kleinen Hauses mit Blick auf den Ohrid-See und winken dem Schäfer Naum Dzajkoski zu, der normalerweise mit seinen Tieren auf den Hochweiden an den Hängen des Nationalparks unterwegs ist. Heute bringt er Anica frischen Schafdung für ihren Gemüsegarten. Er bietet uns an, uns in seinem klapprigen Auto in das höher gelegene Dorf Velestovo zu fahren, wo unser heutiger Wegabschnitt beginnt.
Auf seinem kleinen Hof angekommen, präsentiert er drei Schnapsgläser und eine Flasche Rakija und berichtet in fließendem Englisch, dass es heutzutage immer weniger junge Leute gibt, die sich für das traditionelle Hirtenleben interessieren. „Deshalb ist es für mich so wichtig, über meine Arbeit zu sprechen, über die traditionelle Käserei und die Landschaftspflege, die wir so betreiben. Wanderer können bei mir vorbeikommen und ich zeige ihnen meine Schafe, meine Arbeit und sie können hier meinen Käse probieren und sich vor ihrer Wanderung stärken.“
Außergewöhnliche Begegnungen
Einheimischer Hirte und Geschichtenerzähler im Bergdorf Velestovo, direkt am High Scardus Trail. Probieren Sie den lokalen Käse und erfahren Sie ...
Es sind genau diese Begegnungen, die den High Scardus Trail zu einem so außergewöhnlichen Erlebnis machen. Wenn Naum von der Zeit erzählt, als diese Gegend noch zu Jugoslawien gehörte, wenn er von den Herausforderungen spricht, Naturschutz, wirtschaftliche Entwicklung und Tourismus im Nationalpark unter einen Hut zu bringen, wenn er von den blühenden Almwiesen im Frühsommer, der Einsamkeit hoch oben in den Bergen und der Vielzahl an Wildkräutern und Beeren im Sommer schwärmt, dann kommt man dieser Region und ihren Menschen näher, als man es sonst je könnte.
Der letzte Tag auf dem Trail: Atemberaubende Aussichten auf den Ohridsee
Der krönende Abschluss: Zuerst steil bergauf zum mächtigen Magaro Gipfel und dann steil bergab zum orthodoxen Wallfahrtsort Sveti Naum am Ufer des ...
Am Morgen des letzten Tages starten wir früh an der geräumigen Hütte der Bergrettung Ohrid am Livada-Pass. Vorbei an mächtigen Buchen, in deren Rinde jugoslawische Grenzsoldaten in den 1980er Jahren Namen und Botschaften geritzt haben, führt uns der Weg hinauf in das Hochkar unter den Felswänden des Magaro, dem höchsten Punkt im Galičica-Hauptkamm.
Am Gipfel beginnt es zu nieseln, dennoch ist der Blick über die beiden Seen und tief ins albanische Bergland hinein atemberaubend.
Gut tausend Meter tiefer liegt am Ufer das orthodoxe Kloster Sveti Naum, ein wichtiger Wallfahrtsort für die Christen der Region und der Endpunkt des High Scardus Trail. Obwohl ich mich technisch gesehen noch auf dem Trail befinde, überkommt mich eine Welle der Nostalgie für die vergangenen drei Wochen – die einzigartigen Berge, die Einsamkeit und vor allem die herzlichen Menschen.
Ich frage Rezarta, was der Trail für sie persönlich bedeutet. „Der größte Erfolg ist, dass wir hier Menschen und Akteure aus allen drei Ländern zusammengebracht haben, um gemeinsam ein Angebot zu schaffen, das dieses unglaubliche Erbe für Besucher aus der ganzen Welt zugänglich macht“, sagt sie nach kurzem Nachdenken.
„Vor nicht allzu langer Zeit war Albanien ein von der Welt abgeschottetes Land mit massiver Überwachung an den Grenzen. Heute sind Reisende aus aller Welt begeistert, wie offen, freundlich und doch noch relativ unerforscht dieses Land ist. Jeder, der uns besucht, der den High Scardus Trail wandert, trägt zur weiteren Entwicklung dieser Region bei. Das ist ein echter Segen – für die Wanderer und für alle Menschen hier.“
Der auffrischende Wind drängt uns zum Aufbruch, weiter über den Bergrücken und dann hinunter zum See. In meinem Kopf versuche ich, auch ein Fazit für mich selbst zu ziehen, aber ich schaffe es nicht, die Vielfalt der Eindrücke, die unvergesslichen Ausblicke und Begegnungen, die Herzlichkeit der Menschen, die mystischen Hochebenen, den Geschmack von frischem Schafskäse und Oliven, wärmendem Bergtee und wildem Oregano in einen einzigen Gedanken zu fassen. Mit einem hatte Rezarta zweifellos recht: Ich werde auf jeden Fall wiederkommen.
Mehr Infos über den High Scardus Trail gibt es auf der offiziellen Website: www.high-scardus-trail.com
Im Video bekommst du noch bessere Eindrücke von der einzigartigen Natur und Landschaft am High Scardus Trail.
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Der großartige High Scardus Trail führt über einsame Bergketten im Herzen des westlichen Balkangebirges.
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